Die Menschenmenge bei der Amtseinführung von Donald Trump im Januar 2017 war, laut seinem Pressesprecher Sean Spicer, kleiner als sie hätte sein können. Zudem schien sie kleiner als sie wirklich war – und dennoch, so behauptete Spicer, handelte es sich um die größte Amtseinführung aller Zeiten. Einzelne Aussagen von Spicer mögen oberflächlich betrachtet plausibel erscheinen, doch in ihrer Gesamtheit sind sie inkohärent und beweisen nicht, dass es sich um das größte Publikum handelte. Genau diese Strategie – scheinbar plausible, aber widersprüchliche Behauptungen – steht im Kern der „alternativen Fakten“
Was sind „Alternative Fakten“?
Auf den ersten Blick erscheint der Begriff „alternative Fakten“ wie ein Widerspruch in sich. Fakten sind objektiv überprüfbare Tatsachen – wie könnte es davon eine Alternative geben? Der Ausdruck suggeriert, dass es mehrere Versionen der Wahrheit gibt, doch genau hier liegt das Problem: Es geht nicht um die Suche nach der Wahrheit, sondern um die bewusste Verwirrung der Öffentlichkeit.
Der Soziologe Nils C. Kumkar beschreibt in seinem Buch „Alternative Fakten“, dass diese nicht bloße Lügen sind. Vielmehr widersprechen sie allgemein akzeptierten Tatsachen, um Unsicherheit zu erzeugen und klare Wahrheiten infrage zu stellen. Ziel ist es nicht, über die Fakten selbst zu diskutieren, sondern den Diskurs auf eine andere Ebene zu lenken und den Boden für (weitere) Verwirrung zu bereiten.
Die Amtseinführung von Donald Trump – Der Ursprung des Begriffs
Auch wenn das Phänomen durchaus davor schon bekannt war, wurde der Begriff „alternative Fakten“ durch die Aussagen zu Trumps Amtseinführung 2017 geprägt. Nachdem Presseberichte und Bilder zeigten, dass die Menschenmenge kleiner war als bei früheren Amtseinführungen, erklärte Pressesprecher Sean Spicer, die Zuschauerzahl sei in Wirklichkeit größer gewesen als berichtet. Die Menge habe durch einen neuen Bodenbelag kleiner gewirkt, und Sicherheitskontrollen hätten dafür gesorgt, dass viele Menschen nicht rechtzeitig zu den Zuschauerflächen gelangen konnten. Zudem hätte es keine verlässlichen Zahlen gegeben, um das tatsächliche Ausmaß an Zuschauer*innen zu bestimmen. Hier liegt allein schon ein Widerspruch: Wie kann Spicer dann wissen, dass die Anzahl an Zuschauer*innen größer gewesen sei, als offiziell berichtet wurde? Als Trump-Beraterin Kellyanne Conway später zu den widersprüchlichen Aussagen befragt wurde, verteidigte sie Spicers Worte mit der Erklärung, er habe keine falschen Informationen geliefert, sondern „alternative Fakten“. Damit war die Terminologie geboren.
Was machen alternative Fakten mit der Wahrheit?
Ein weiteres, älteres Beispiel dafür ist die Debatte über den Klimawandel. Obwohl ein wissenschaftlicher Konsens darüber besteht, dass der Klimawandel real ist und durch menschliches Handeln beschleunigt wird, werden immer wieder „alternative Fakten“ präsentiert, um diesen Konsens infrage zu stellen. Diese Taktik verhindert eine klare Auseinandersetzung mit den Fakten und lenkt von der eigentlichen Problematik ab.
Auch die Alternative für Deutschland (AfD) bediente sich während der Corona-Pandemie verstärkt dieser Strategie. Anfangs verbreiteten AfD-Anhänger*innen nur vereinzelt alternative Fakten. Doch je deutlicher die öffentliche Meinung und die Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung wurden, desto stärker verschob die Partei den Diskurs. Sie stellte die offizielle Corona-Politik infrage und verstärkte gesellschaftliche Konflikte, indem sie “alternative Fakten” nutzte, um ihre Opposition gegen die Maßnahmen sichtbar zu machen und zu untermauern.
Im Gegensatz zu „Fake News“, die klar auf falsche Informationen hinweisen, suggerieren alternative Fakten, es gäbe mehrere legitime Sichtweisen auf die Wahrheit. Das verwischt die Grenze zwischen Wahrheit und Lüge und erschwert es, eine gemeinsame Basis für Diskussionen und Entscheidungen zu finden. Kumkar betont, dass es bei alternativen Fakten weniger um die Aussagen selbst geht, sondern um die zugrunde liegenden sozialen und politischen Konflikte, die durch sie verschleiert werden.
Was können wir dagegen tun?
Doch es gibt Hoffnung: Kumkar schlägt vor, den Diskurs zu entschärfen und die Debatte runterzukochen. Statt ständig den Wahrheitsgehalt alternativer Fakten zu hinterfragen, sollten wir genauer hinschauen: Welche tieferen Konflikte und Spannungen werden hier verschleiert? Und wie könnten sie (politisch) gelöst werden? Wenn wir uns auf diese Fragen konzentrieren, können wir eine Grundlage für einen konstruktiveren Dialog schaffen. Alternative Fakten verlieren ihre Macht, wenn wir ihre Wurzeln erkennen und adressieren.